Die Raumorientierung

Der Raum [1]

  „Es gibt in unserer Umwelt keine direkte Information über räumliche Beziehungen. Alle unsere Informationen über räumliche Lokalisierung erhalten wir durch sensorische Hinweisreize, die interpretiert werden müssen, um uns räumliche Konzepte liefern zu können.“

„Der Raum ist ein Konzept, das im Gehirn entwickelt wird.“

„Der Raumbegriff ist stets sekundäres sensorisches Datum. Obwohl wir den Raum und die Raumwelt als eine substantielle, existierende Realität auffassen und obwohl wir uns so verhalten, als hätten wir direkte Information darüber, mußten wir diese Weit tatsächlich erst aus der Interpretation der Vielzahl sensorischer Daten aufbauen, deren keine mit dem Raum selbst direkt verknüpft war.

Entwicklung einer Raumorientierung

Die Entwicklung einer Orientierung im Raum stellt einen notwendigen, persönlichen Lernprozeß dar, bei dem das Individuum die Kompetenz erwirbt, sich eindeutig im Kontakt zu sich selbst und seiner materialen und personalen Umgebung zu beschreiben und zuzuordnen.

Das im Laufe der ersten Lebensjahre in Abhängigkeit von der motorischen Entwicklung zunehmend differenzierter reifende Orientierungsvermögen im Raum von der nahen zur weiten Umgebung wird ermöglicht durch die Entwicklung eines persönlichen Raumkonzeptes, das sich auf der körperlichen und verstandesmäßigen Ebene herausbildet.

Einen Außenraum als solchen, getrennt von der Person existierend, kann es nicht geben, da er nicht wahrnehmbar sein kann. Vielmehr stellt der Außenraum ein leiblich faßbares Konstrukt dar, ein in jedem Einzelnen sich entwickelndes Abbild der Umgebung. Der eigene Leib besitzt aufgrund seiner zentralnervösen Voraussetzungen die Möglichkeit, die außerhalb seiner anatomischen Grenzen vorfindbaren Gegebenheiten für sich zu ersehen, erhören, erriechen, erschmecken, über seine vielfältige somatosensorischen Möglichkeiten zu erspüren, zu erleben und kognitiv zu erfassen. Aus der besonderen neurophysiologischen und psychologischen Qualität der Integration aller dieser sensomotorischen Sensationen entsteht ein unter verändernden Einflüssen sich permanent veränderndes Bild von Außenraum.

Der Außenraum wird lebbar, faßbar, begreifbar, "verständnisbar" über und mit Hilfe des Wahrnehmens der eigenen Leiblichkeit. Die Außenwelt ist ein Konstrukt, das im eigenen Leib entsteht.

Somit ist die Entwicklung des eigenen Körperbewußtseins von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung einer Vorstellung von dem Konstrukt Raum. Die Wahrnehmung von eigener Körpergröße, Körperausdehnung, Körperstruktur, Körperbewegung, Körpererleben läßt eine Orientierung an sich selbst erwachsen und den eigenen Körper als Raum, sprich: Innenraum entstehen. Der eigene Körperraum mit seinen Körperelementen und Strukturen wird zur zentralen Orientierung, die es ermöglicht, sich in Beziehung zum Außenraum zu setzen bzw. das eigene Körper- und Raumbild nach außen zu projizieren.

Die Haltung, daß eine Objektivierung von Außenraum aufgrund der individuellen leiblichen Konstruktion von Raum nicht sinnvoll erscheint und Innen- und Außenraum ein sich gegenseitig bedingendes leibbezogenes Konstrukt darstellen, erscheint mir auf der pädagogischen Ebene eine wichtige didaktische Leitidee zu sein. Sie reiht sich ein in die Grundhaltung der motopädischen Arbeit, daß die Wahrnehmungsentwicklung ein ausschließlich individueller, auf die Persönlichkeit des Einzelnen ausgerichteter Lernprozeß darstellt.

Innerhalb der Leibtheorie [2] baut sich die Raumerfahrung und -orientierung auf drei unterschiedlichen Niveaus auf.

Der Weiteraum

Das niederste Erfahrungsniveau ist der Weiteraum, der sich aus leibnahen Schichten herausbildet. Allgemeines Klimaspüren, Abendstimmungen, atmosphärische Schwingungen vermitteln eine Möglichkeit, sich in seinem Leibspüren von der Umgebung abzuheben.

Der Richtungsraum

Die Möglichkeit, mit seinem Körper sich örtlich in der Zeit über die motorischen Qualitäten des Gehens, Laufens, Greifens, Fallens etc. zu verändern, ermöglicht das Entstehen einer zweiten leiblichen Erfahrungswelt, die Vorstellung eines Richtungsraumes. Auch der Blick vermittelt eine leibliche Richtung.

Der Ortsraum

Auf der Grundlage dieser leiblichen Erfahrungen und der Entstehung von Weite- und Richtungsraum entwickelt sich der Ortsraum. Die Person setzt sich aufgrund von eigener leiblicher Ortsveränderungen und der einhergehenden Lage- und Abstandsbeziehungen in Relation zu verschiedenen Orten und diese wiederum zueinander. Es entsteht ein Lernprozeß, der, entfremdet von leiblicher Erfahrung, ein gedankliches Weltgebäude entstehen läßt, in dem Raum auf der kategorialen Ebene mit Begriffen wie Element, Struktur, Richtung, Länge, Weite und Enge, Geradlinigkeit, Kurvigkeit beschrieben wird. Dieser Teil der Raumerfahrung und -orientierung kann, aufgebaut auf der leiblichen Erfahrung, als kognitive Kompetenzaneignung gesehen werden.

Er stellt einen entwicklungspsychologisch wichtigen Lernprozeß dar, um, darauf aufbauend, beispielsweise im 2-dimensionalen Bereich den kognitiven Leistungsanforderungen wie Lesen, Schreiben, Rechnen in der Schule gerecht zu werden.

Da der Schwerpunkt in der motopädische Arbeit auf der Betreuung von Kindern im Alter von ca. 4 bis 10 Jahren liegt, kommt diesem Anteil der Raumorientierung und -erfahrung besondere Bedeutung zu. Die kategoriale Entwicklung eines Raumkonzeptes kann mit Beginn der Vorschulerziehung als aktiver Lernprozeß thematisiert werden. Auf der didaktischen, methodischen und praktischen Ebene erscheinen mir hierbei insbesondere die Ausführungen von Barbara Haselbach [3] relevant.


[1] Zitat aus N.C. Kephart: Das lernbehinderte Kind im Unterricht. München Basel 77. S. 124.

[2] Vgl.: Herrmann Schmitz: Phänomenologie der Leibfichkeit. In: Hilarion Petzold: Leiblichkeit. Paderborn 2. Aufl. 86.

[3] Vgl.: Barbara Haselbach:Tanzerziehung. Stuttgart 4.Aufl. 84.